Der Engel der Geschichte: Ein Testbild für die Dekalibierung

Rosa Menkman

Vor dem Engel der Geschichte
Von einer dicken Schicht Schminke bedeckt, filmte sie ihr Gesicht auf DV-Band. Sie wollte ihre Mängel kaschieren, um perfekt zu sein. Doch schon kurz nach Beginn der Aufnahme zerbrach die Illusion und sie sah sich gezwungen, die Notaufnahme des Krankenhauses aufzusuchen. Eine allergische Reaktion auf die Schminke verursachte heftige Augenschmerzen und beeinträchtigte noch tagelang ihre Sehkraft.

Videostandbild des Quellenmaterials von A Vernacular of File Formats, The Collapse of PAL und Dear Mr. Compression, alle 2010

Hinter dem Engel der Geschichte
Sieben Jahre nach der Aufnahme des Quellenmaterials von A Vernacular of File Formats: An Edit Guide for Compression Design (2010) mutet es seltsam an, in dem damals von mir aufgenommenen Material, ein „Selbstporträt“ zu sehen, dieses Bild als „mein Bild“ zu betrachten. Als ich es gefilmt habe, war es ein Symbol für mein unvollkommenes Wesen. Ich wollte so „perfekt wie Porzellan“ sein, zumindest äußerlich, doch mein Körper brach aus und erinnerte mich daran, dass so etwas wie Perfektion nicht existiert. Nicht einmal in dieser Video-Scheinwelt.
Es war nicht bloß ein Klischee von Zeit, welche die Wunden meiner blutunterlaufenen Augen heilte und mein Haar langsam aber auf natürlichem Weg weiß werden ließ, das mit zunehmenden Alter mein Verhältnis zu dieser speziellen Aufnahme änderte. Als die Zeit verging, änderte sich die Beziehung zwischen mir und diesem Bild aus anderen, komplexeren und unerwarteten Gründen grundlegend.

Kompression
Digitale Fotografie reduziert den Aufwand, ein Bild des Gesichts – zum Beispiel ein Selfie oder ein Portrait – aufzunehmen, scheinbar auf den simplen Akt des Knipsens. Dabei wird ein solches Bild des Gesichts von diesen in der (digitalen) Bildgebungstechnologie erstellten und gespeicherten Fotos tatsächlich nicht einfach aufgenommen und festgehalten. Vielmehr basieren die Prozesse, die das Gesicht auf dem Datenträger speichern, auf zahlreichen Programmen, denen jeweils eine eigene Logik eingeschrieben ist. Dazu gehören unter anderem Programme der Skalierung, Neuordnung, Zerlegung und Wiederherstellung der Bildinformationen zugunsten bestimmter Angebotscharaktere, die sich ihrerseits wiederum entlang technischer, politischer und historischer Konventionen und Einstellungen ausrichten.
Diese Angebotscharaktere oder Affordanzen, wie James Gibson sie nannte, der sie 1977 als „latente Handlungsangebote von Objekten“ definierte, entstehen durch die Berücksichtigung von Parametern wie Geschwindigkeit, Größe und Menge, die in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden.1 Je größer die Datei, desto mehr Zeit nimmt es in Anspruch, sie aus dem Speicher auszulesen, und desto langsamer reagiert die Kamera. Wie Adrian Mackenzie 2008 schrieb: „Programme wie Codecs werfen verschiedene Probleme auf. Zum einen sind sie schrecklich kompliziert. In methodischer Hinsicht könnte die Auseinandersetzung mit Codecs als technischen Prozessen zu langwierigen Exkursionen in die labyrinthischen Tiefen von mathematischem Formalismus und Maschinenarchitektur führen, und dann Wege auftun, die es erlauben, sich davon zu verabschieden, dass die wichtigsten Funktionen auf ihnen basieren. [...] Zum anderen haben sie – auf phänomenologischer Ebene – einen starken Einfluss auf Textur, Flow und Materialität von Klängen und Bildern.“2 Einen Standardisierungsprozess zu rekonstruieren, ist deshalb äußerst komplex, wenn nicht sogar grundsätzlich unmöglich. Obwohl Standards häufig auf eine Weise festgelegt werden, die alle Spuren von Prüf- und Standardisierungssystemen vermeidet oder verwischt, können solche Spuren allerdings (wieder) auftauchen – in Form von Mängeln, übernommener Dogmen oder (veralteter) Artefakte.

Testbild
Ein grundlegendes Element der Bildbearbeitungsgeschichte und der Standardisierung von Parametern sowohl in analogen als auch digitalen Kompressions- und Codec-Technologien sind Testkarten, -formen oder -bilder. Standardmäßig ist ein Testbild eine Bilddatei, die systemübergreifend benutzt wird, um beispielsweise Bildverarbeitung, Kompressionsalgorithmen und Wiedergabe zu prüfen oder die Qualität eines Displays zu analysieren. Eine spezielle Art von Testbild, auch Test Pattern oder Resolution Target genannt, dient üblicherweise dazu, die Wiedergabequalität einer Technologie zu prüfen oder die Auflösung eines bildgebenden Systems zu bestimmen. Das Muster eines solchen Auflösungstestbilds besteht häufig aus Referenzlinien mit genau definierten Stärken und Abständen. Durch Identifizierung der größten Reihe nichtunterscheidbarer Linien lässt sich das Auflösungsvermögen eines bestimmten Systems bestimmen. Die Verwendung identischer Standardtestbilder erlaubt es unterschiedlichen Laboren, Ergebnisse zu vergleichen, sowohl in visueller als auch qualitativer und quantitativer Hinsicht.3
Eine andere Art von Standardtestbild, das sogenannte Farb-Testchart, erleichtert den Farbabgleich oder die Farbanpassung und wird außerdem zur Prüfung der Farbwiedergabe oder auch unterschiedlicher Displays benutzt. Obwohl es für jede Technologie eigene Farb-Testcharts gibt (beispielsweise für Fotografie, Fernsehen oder Film), ist dieser spezielle Bildtyp durch seine Geschichte vorbelastet, da diese Farb-Testkarten auf Fotos von Frauen mit weißer Hautfarbe zurückgehen. Die nach dem Vornamen des ursprünglichen Fotomodells Shirley Cards (in der analogen Fotografie) oder aber China Girls (in der Farbfilm-Chemie) genannten Testbilder waren – so stand es auf diesen Karten häufig geschrieben – der „normale“ Standard.4 Obwohl es viele Shirleys oder weiße Frauen als Testsubjekte gab, dienten diese Karten keineswegs dem Variationsreichtum, sondern kultivierten vielmehr einen einseitigen, genderspezifischen Referenzstandard, der leider bis heute als dominante Norm fungiert. Von vielen der sogenannten Shirleys, die diese Norm vorgaben, ist die Identität nicht bekannt.

A Vernacular of File Formats
Ein Dateiformat ist ein Kodierungssystem, das Informationen nach einer speziellen Syntax oder einem Kompressionsalgorithmus organisiert. Die Wahl für eine bestimmte Bildkompression hängt von der vorgesehenen Verwendungsweise ab. Dabei geht es um solche Fragen wie: Wie viel Präzision benötigt eine bestimmte Aufgabe, welche Hard- oder Software wird das Bild verarbeiten, welche Informationen sind wichtig und welche können vernachlässigt werden?
Jeder Kompressionsalgorithmus bringt seine eigenen Regeln und Kompromisse mit, die – wenn auch oft unsichtbar – unsere Medien auf grundlegende, bedeutsame und häufig kompromittierende Weise beeinflussen. In A Vernacular of File Formats untersuche und enthülle ich diese ansonsten versteckten Programme: Mit Hilfe einer Serie fehlerhafter Selbstporträts illustriere ich die Sprache von Kompressionsalgorithmen.
A Vernacular of File Formats besteht aus einem Quellbild, dem Originalporträt, und einem Arrangement von rekomprimierten und gestörten Wiederholungen davon. Indem ich das Quellbild in verschiedenen Komprimierungssprachen komprimierte und anschließend in jede Datei denselben (oder einen ähnlichen) Fehler einbaute, zeigte sich die normalerweise nicht sichtbare Komprimierungssprache auf der Bildoberfläche.

A Vernacular of File Formats, 2010

Über die Wiederholung eines jeden Bildes hinaus, beschrieb ich nicht nur den generellen Gebrauch der jeweiligen Bildkompression, sondern versuchte auch zu erläutern, wie ich das Bild gestört hatte und welche wesentlichen Affordanzen der Kompression für das ästhetische Ergebnis verantwortlich waren. Auf diese Weise legte A Vernacular of File Formats nicht nur den Grundstein für meine laufende Recherche zu Dateiformaten und deren bildlicher Auflösung, sondern ist auch ein Thesaurus oder Handbuch der Glitch-Ästhetik.

Eine Shirley-Card für die Dekalibrierung
Als ich A Vernacular of File Formats veröffentlichte, zirkulierten seine Bilder sofort wie selbstverständlich im Internet. Einige von ihnen wurden mit meiner Zustimmung und mit Quellverweis wiederveröffentlicht, andere wurden schlecht kopiert (ohne Quellverweis). In sozialen Netzwerken begegnete mir mein Gesicht hin und wieder als Profilbild anderer Menschen. Schnell wurde deutlich, dass bestimmte Wiederholungen des Selbstporträts etwas mehr Zugkraft hatten als andere, sie wurden häufiger angefordert oder ausgewählt und schmückten die Cover von Büchern, Schallplatten und digitalen Musikveröffentlichungen. Eines der Bilder wurde zum Aushängeschild eines Festivals in Valencia (mit einer Plakatkampagne in der ganzen Stadt).
Bereits wenige Jahre nachdem ich A Vernacular of File Formats veröffentlicht hatte, sorgte die Kontextverschiebung des Porträts dafür, dass ich mein Verhältnis zu dem Bild überdachte. Das geschah zum ersten Mal, als ich eine Beschreibung des Werks in einem Text von Kevin Benisvy las, der damals Student an der University of Massachusetts war. Benisvy schrieb: „Die Protagonistin wird gezeigt, wie sie sich die Haare kämmt, ihr Ausdruck scheint ‚Komm her’ zu sagen, als wäre sie in einer Playboy-Erotikstory überraschend bei einem intimen Moment ertappt worden.“5 Ich habe das Bild nie als erotisch betrachtet, für mich hatte es vielmehr eine schmerzhafte und unheimliche Stimmung (es dokumentiert, wie ich für eine gewisse Zeit meine Sehkraft verliere). Aber das Lesen dieser Zeilen vermittelte mir einen Eindruck davon, was für eine Vielfalt an Lesarten das Bild heraufbeschwören kann.
Kurz danach kam es zu einer Reihe von Fällen unabgesprochener Nutzung ohne Quellenverweis: Das Gesicht wurde zum schmückenden Motiv von billigen Online-Mailorder-Artikeln wie etwa Tassen und Sweatshirts, tauchte auf dem Cover einer Schallplatte von Phon.o auf, die beim Berliner Label BPitch Control6 erschien, zierte die Anwendungsbuttons zweier urheberrechtlich geschützter Glitch-Software-Apps für iPhone und Android, wurde zur Kontur des Gesichts von Yung Joey (einem schwarzen Rapper, der mit Photoshop sein Gesicht in meins montierte) und Teil der Sponsoringaktion für einen Hollywoodfilm über eine Frau, die von einem Stalker bedrängt wird7, um nur ein paar der überraschenden Nutzungen zu nennen. Verwertet von Künstlern und Kulturschaffenden verlor das Bild allmählich den Bezug zu seiner Quelle, zu mir, und wandelte sich stattdessen zum Porträt von niemand Konkretem, eines Geistes, ähnlich einem Shirley-Testbild, nur dass die Shirley-Card in diesem Fall der Dekalibrierung diente. Heute wünschte ich, statt mich in die lange Tradition genderspezifischer, rassisch konnotierter Testbilder zu stellen, ich hätte das Gesicht eines männlichen, afroamerikanischen Models wie zum Beispiel Renauld White oder Urs Althaus verwendet.

Übersetzung: Stephan Glietsch

1 James J. Gibson, The ecological approach to visual perception. Psychology Press, 2014.
2 Adran Mackenzie, „Codecs“ in Matthew Fuller (Herausg.), Software studies: A lexicon. Mit Press, 2008.
3 “Resolution Test Targets,” Thorlabs, https://www.thorlabs.com/NewGroupPage9_PF.cfm?ObjectGroup_ID=4338.
4 Benjamin Gross, “Living Test Patterns: The Models Who Calibrated Color TV”, https://www.theatlantic.com/technology/archive/2015/06/miss-color-tv/396266/.
5 Kevin Benisvy, University of Massachusetts, Boston, „The Queer Identity and Glitch: Deconstructing Transparency“.
6 Phon.o und traten kurz Veröffentlichung in Kontakt und er hat nun mein Einverständnis zur Benutzung des Bildes.
7 Baldwin und ich traten nach Veröffentlichung in Kontakt und sie hat nun mein Einverständnis zur Nutzung des Bildes.

Rosa Menkman (*1983) ist eine niederländische Künstlerin und Theoretikerin. Sie befasst sich mit Visual-Noise-Artefakten, die durch Störungen in analogen und digitalen Medien entstanden sind. In ihren Texten setzt sie sich mit dem Thema „Resolution“ und Phänomenen wie z. B. Funktionsstörungs-, Verschlüsselungs- und Feedback-Artefakten auseinander.