Sicher nicht ich: Fotos, Masken, Häute

Valentin Groebner

Die Fotografie war noch nicht erfunden, aber Denis Diderot wusste schon Bescheid. „Das bin ich nicht!“, schrieb er 1773 beim Betrachten seines eigenen Porträts. Er habe an einem Tag hundert verschiedene Gesichter, „je nach der Sache, von der ich beeindruckt war. Heiter, traurig, träumerisch, zärtlich, heftig, leidenschaftlich, aber nie so, wie ihr mich hier seht.“1 Er trage eine Maske, die kein Bild wiedergeben könne, weil in ihr zu viele Dinge verschmölzen und sich in so schneller Folge auf seinem Gesicht abzeichneten, dass kein Malerauge ihnen folgen könne.

Unbekannt, Französische Fotopostkarte an die Muttergottes von Einsiedeln, Schweiz, 1916

Damit hat er Recht. Das menschliche Gesicht funktioniert als Kommunikationsinterface, weil es beweglich ist – an keiner anderen Stelle des Körpers gibt es so viele Muskeln auf so kleinem Raum. Jedes Bild friert sie ein. So detailliert es alle Details auch erfassen mag, das Bild zeigt etwas, das es in der Wirklichkeit eben nicht gibt – erstarrte, still gestellte Züge. „Wenn man eine Maschine erfände“, hatte Diderot einige Jahre früher gefragt, „die Gemälde hervorbrächte wie Raffael, wären diese Gemälde noch schön?“. Seine Antwort war harsch: „Nein.“ „Und die Maschine? Sobald sie etwas Alltägliches würde, wäre sie nicht schöner als die Gemälde.“2

1839 war sie da, diese Maschine, und die Öffentlichkeit war begeistert – endlich ein Verfahren, das exakte Abbildungen von Menschen ermögliche, schwärmte der französische Innenminister, der Staat solle die neue Technologie sofort ankaufen. Amtliche Ausweise, forderte 1851 der Fotograf Louis Dodéro, müssten unbedingt mit Fotografien ausgestattet werden – endlich fixierte, verlässliche Bilder. Andere fanden genau das unerträglich. „Ich verachte die Fotografie so sehr“, schrieb Gustav Flaubert 1853, „wie ich die Originale liebe. Nichts an ihr ist wahr.“ Nie würde er zulassen, dass ein fotografisches Porträt von ihm angefertigt würde. Damit stand er nicht allein. Er habe sich „seit langen Jahren nicht mehr abbilden oder fotografieren lassen“, schrieb Jakob Burckhardt 1860, und 1864 protestierte er erneut: „Mein eigenes Angesicht kann und kann ich nicht fotografieren lassen! Der Widerwille ist gar zu groß, ich weiß nicht warum.“3 Charles Darwin fragte sich besorgt, ob er wirklich einen so abstoßenden Gesichtsausdruck habe wie auf den Fotos, und andere fürchteten unwiderrufliche Verluste: Mit jedem Porträt, meinte der Schriftsteller Honoré de Balzac, werde ihm eine dünne Haut von seinem eigenen Gesicht abgezogen, sodass von ihm letztlich nichts mehr übrigzubleiben drohe.

Dabei hatten doch schon die Zeitgenossen einen ganz anderen Effekt bemerkt – Vermehrung. „Jedes neue Bild“, schrieb der amerikanische Fotoenthusiast Oliver Wendell Holmes 1861, zeige neue Seiten des Dargestellten. „Wir bemerken, dass er nicht ein Gesicht hat, sondern viele.“ 1854 war das Carte-de-Visite-Verfahren patentiert worden, das die Herstellung mehrerer Porträts auf einem Blatt Fotopapier in einem Entwicklungsgang erlaubte. Die neue Kombination der gedruckten Visitenkarten mit aufgeklebten fotografischen Porträts wurde ein fantastischer Erfolg: „Visitenkarten-Epidemie“ nannten es die Zeitgenossen. Das eigene Gesicht, in unterschiedlichen Posen und Kostümen vor wechselnden Hintergründen, wollte verschenkt, versendet, verbreitet sein; die Bilder der anderen gesammelt, getauscht, präsentiert. Jährlich wurden mehrere hundert Millionen Stück dieser Porträts hergestellt. Der amerikanische Präsident Abraham Lincoln, 1860 von einem Bewunderer um eine solche Carte de Visite gebeten, antwortete, er habe die Kontrolle über sein Bild im neuen Medium längst verloren. „I suppose they got my shadow and can multiply copies indefinitely.“ 4

Shadow, Schatten, war in den USA die geläufige Bezeichnung für die neuen Bilder. Oder soll man Beschattung sagen? Nach ersten Versuchen der fotografischen Erfassung von Verdächtigen in den 1840er- und 1850er-Jahren hatten die Polizeibehörden in Europa und Amerika vier Jahrzehnte lang Millionen standardisierter fotografischer Porträts von echten oder vermeintlichen Übeltätern in ihren Archiven versammelt, – um festzustellen, dass sie in der Praxis wenig taugten. Fälle von Doppelgängern und zufälligen Ähnlichkeiten seien nie vollständig auszuschließen, klagten die Kriminalisten, Manipulationen des Aussehens seien zu einfach, und ein und dieselbe Person sähe auf verschiedenen Bildern zu unterschiedlich aus. Die polizeilichen Porträtfotos waren alle unmittelbar und präzise, aber unzuverlässig ‒ eben weil sie so unmittelbar und präzise waren.5

Im Zeitalter der unendlichen Vervielfältigungen des eigenen Aussehens durch die große Stopp!-Maschine Fotografie wurden die Gesichter auf den Porträts zu einem unübersehbar breiten Strom immer neuer Mienen und Posen: George Bernard Shaw hat das 1902 in der ironischen Bemerkung zusammengefasst, dass auch die allerbesten Maler nur jeweils eine Ansicht der Person geben könnten – und die entspreche natürlich nie der Realität. „Die Kamera dagegen“, setzt er fort, „macht aus einem Gesicht authentische Porträts von mindestens sechs verschiedenen Personen und Charakteren.“ Eugène Delacroix hatte das schon 1850 gemerkt. „Wer von uns hat nicht hundert Gesichter? Wird mein Porträt von heute morgen dasjenige von heute abend und von morgen sein?“6

Immer dann, wenn eine vertraute Technik durch eine neue ersetzt worden ist, kommt den Zeitgenossen das Alte plötzlich solide, zuverlässig und handfest vor angesichts ihrer triumphierend schnelleren, quecksilbrigeren, unkontrollierbareren Nachfolger: aber erst im Nachhinein. In den aufgeregten Debatten um die neuen fotografischen Massenbilder vor 150 Jahren erscheinen viele Motive, die uns im Zeitalter der millionenfach geknipsten, vervielfältigten und versendeten digitalen Gesichterbilder eigenartig vertraut vorkommen. Könnte es sein, dass neue Medien dort am erfolgreichsten sind, wo sie alte Wünsche verkörpern? Seit der Antike hatte die Physiognomik versprochen, mit der genauen Analyse des Äußeren, des Gesichts, die inneren, versteckten Eigenschaften der Person endlich zu entziffern: Mit der Erfindung der Fotografie 1839 bekam diese Sehnsucht ein neues Medium. Deswegen die besessene Suche nach dem Wahren, Entlarvenden, „Charakteristischen“ in den Millionen von Bildern von Gesichtern, Gesichter von Patienten, Verdächtigen, Stellenbewerbern, Heiratskandidaten oder sonst möglichen Wünscherfüllern und -erfüllerinnen, mit Silbersalzen fixiert. Nur blieben diese Gesichter eben, was sie vorher auch schon gewesen waren: beweglich.

Siegfried Kracauer griff in einem Essay 1927 deshalb nicht zu historischen Vorbildern, sondern zum Vergrößerungsglas, um das Geheimnis dieser Fotos zu ergründen. „So sieht die Filmdiva aus: 24 Jahre alt auf der Titelseite einer illustrierten Zeitung vor dem Excelsior-Hotel am Lido. Wer durch die Lupe blickt, erkennte das Raster, die Millionen von Pünktchen, aus denen die Diva, die Wellen und das Hotel bestehen.“ „Noch nie“, setzt er ironisch fort, „hat eine Zeit so gut über sich Bescheid gewusst, wenn Bescheid wissen heisst: ein Bild von den Dingen haben, das ihnen im Sinne der Fotographie ähnlich ist.“

Kracauer verweist auf das augenzwinkernde „Glaub mir!“, das in jedem Foto steckt, auf das Flirten mit der medialen Illusion: So richtig verlässlich wollte diese Ähnlichkeit gar nicht sein. Vier Jahre später hatte Fritz Lang in M ‒ Eine Stadt sucht einen Mörder die Verzerrung von Peter Lorres Gesicht in Großaufnahme auf die Leinwand gebracht: Ein Gesicht, das sich in lauter Fahndungsbildern, Zeitungsbildern und Filmplakaten auffächert. Ebenfalls 1931 hatte der Fotograf Helmar Lerski seine Köpfe des Alltags publiziert, 80 Gesichter aus der Berliner Unterschicht: Putzfrauen, Arbeitslose, Tagelöhner, dramatisch inszeniert wie Filmschauspieler. „In jedem Gesicht ist alles“, hat Lerski bemerkt, „die Frage ist nur, worauf das Licht fällt.“7

Alle diese Fotos sagen über die Obsessionen und Zwangsvorstellungen der Institutionen, die sie in Auftrag gegeben haben, viel mehr aus als über die Inhaber der Gesichter, deren Bilder sie zeigen. Die zuerst adeligen, dann bürgerlichen Spektakel der Soziabilität, die ab den 1860er-Jahren die Cartes de Visite millionenfach produzierten; der identifizierende und kontrollierende Staat, der zuerst Fotos von Geisteskranken und Verdächtigen und dann – ab 1915 – Passfotos aller seiner Bürger haben wollte; die Massenpresse, die ab den 1920er-Jahren ihren unstillbaren Hunger auf „famous faces“ entwickelte, auf die Bilder der Gesichter von Schauspielern, Politikern und Sportlern; der explodierende Markt für Gegenwartskunst, der ab den 1970er-Jahren die subjektiven Selbstdarstellungen der Produzentinnen und Produzenten samt Gesichtern in die Showrooms der Galerien und Museen katapultierte; die neuen kommerziellen Kanäle der sozialen Medien der letzten zehn Jahre mit ihrem Zwang zum Selfie: alles Bilderfabriken, Förderbänder für Gesichterfotos, in potenziell endlosen Serien.

Ist das schlimm? Vielleicht. Das Gesicht bleibt ja deines, – aber nur das bewegte, unfotografierbare, in Fleisch und Blut. Denn das Bild, so die Lektion aus der Mediengeschichte, das bist nicht du. Es ist nur ein Schatten, ein Haufen Rasterpunkte, ein kleines Paket Pixel. Man zieht sie dir ab, diese Maske, die Haut, von der Diderot und Balzac geschrieben haben, sie kriege ein Eigenleben – und sie flattert davon. Wie eine von diesen dünnen Plastiktüten, die auch so gut fliegen können. Gute Reise.

Und du selber bleibst, wo du bist.

1 Denis Diderot: Ästhetische Schriften Bd. 2. Hg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt/M. 1968, S. 25.
2 Zitiert nach Daniel Spanke: Porträt – Ikone – Kunst. Methodologische Studien zur Geschichte des Porträts in der Kunstliteratur. München 2004, S. 284.
3 Jakob Burckhardt: Briefe. Hg. von Max Burckhardt, Basel/Stuttgart 1949-1994, Bd. 4, S. 52 und 152; mehr bei Jan von Brevern: Resemblance after Fotography. In: Representations 123 (2013), 1-22.
4 Valentin Groebner: Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine. Frankfurt/M. 2015, S. 77-79.
5 Ebd. S. 82-84.
6 Eugène Delacroix: Le Dessin sans maître. In: Revue des Deux Mondes 7 (1850), S. 1139-1146; zitiert nach Brevern, Resemblance, S. 8.
7 Groebner: Ich-Plakate. S. 106-113.

Valentin Groebner (*1962 in Wien) lehrt Geschichte an der Universität Luzern. Er ist der Autor von: Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine, Frankfurt/M. (2015).