Auge in Auge mit der Aura

Léa Bismuth

AURA, AURE, Subst. f
I – Aure, HIST. PHYS. Atem, Lufthauch, Himmelsraum
II – Aura
A. Lichtkreis, Atmosphäre, die ein Lebewesen scheinbar umgibt oder ein Ding einfasst.
B. Eine Art farbiger Dunst oder Strahlung einer Aureole, die den menschlichen Körper, insbesondere den Kopf umschwebt.
C. MED. Gesamtheit der motorischen, sensitiv-sensorischen, vegetativen oder psychischen Symptome, die den Beginn eines epileptischen Anfalls kennzeichnen. Psychische Aura. Visuelle Aura. Aura epileptica.
D. Lichtband, das die Menschen umgibt, von denen es heißt, dass sie Medien sehen können, und dessen Farbe sich abhängig vom geistigen Zustand des Subjekts verändert.1

Vieles ist über die Aura und die Auswirkungen dieses schwer vorstellbaren, dialektischen (in seinem Naturell widersprüchlichen) Phänomens geschrieben worden, das Walter Benjamin in seinem berühmten Aufsatz Kleine Geschichte der Fotografie (1931) erörtert hat. Inzwischen weiß man, wie grundlegend sein Text für die weitere Entwicklung der Fotografie war – in Hinblick auf die Bekräftigung der dokumentarischen Haltung ebenso wie für das weite Feld der künstlerischen Praktiken und für die fotografischen Gestaltungstechniken. Ich versuche, an dieser Stelle weder einer aktuellen Bedeutung dieses Begriffs nachzugehen, noch die Einmaligkeit des Kunstwerks oder den „Verlust der Aura“ (ob bedauerlich oder nicht) zu hinterfragen, der mit der Frage nach der weitestgehend möglichen Reproduktion von Fotografie verbunden ist. Diese Frage nochmals ins Spiel zu bringen, ermöglicht es, darüber nachzudenken, wie vielschichtig die Fotografie ist, ob die spektrale Natur des Mediums eine Bedeutung hat, in welcher Form diese Spektralschichten, falls sie wirklich existieren, in Erscheinung treten. Wie lässt sich in die Zeit eingreifen, in jenes Wesen, das das Unvereinbare – das Vergangene und das Gegenwärtige, ja alles Erlebte – in ihrer eigenen Substanz zusammenbringt? Ist es überhaupt möglich, den Begriff der Aura zu definieren, also nicht nur die Aura des Kunstwerks, sondern die Aura als solche, als auratische Erscheinung? Es ist eine vieldeutige, unklare Herangehensweise. Aber ist es denn für einen Fotografen oder eine Fotografin denkbar, der Aura Auge in Auge zu begegnen?

Zahlreiche zeitgenössische fotografische Praktiken nehmen sich der Fotografie genau deswegen an, was sie ist: Licht, Dunkel und Zeit eingeschlossen auf einer Oberfläche. Die Camera obscura, die Polaroidkamera, silberbeschichteter Film oder Entwicklerbad sind ihre Mittel. Die Künstler bleiben jedoch keineswegs bei einer einfachen Befragung der technischen Mittel, sondern bereiten auf dem Feld der zeitgenössischen Kunst schon die Zukunft der Fotografie vor. Schließlich ist es über Fotografie möglich, etwas von Dauer zu erzeugen, Immaterielles einzufangen, das Nebulöse und das Unklare zu visualisieren. Die Fotografie ist ein poetischer Träger, denn wie das Schreiben bietet sie ein Format, in dem das flüchtig Wahrgenommene eingefangen wird. Wir können uns also folgende Frage stellen: Was bedeutet es, im Innern eines Bildes eingeschlossen zu sein? Wir nähern uns der Antwort mit einem Vergleich: der Vorstellung, wenn wir im Kino plötzlich nicht mehr vor einem Film sitzen, sondern mitten drin, in einem neuen Raum, der weder Anfang noch Ende hat. Es ist ein Raum reiner Anwesenheit und Zeitdauer wie der des Traums, wenn wir schlafen. Wenn die Zeitdauer, wie Bergson es beschreibt, eine tatsächlich erlebte Erfahrung von Zeit ist – der vergehenden Zeit, aber auch der Zeit, deren Speicher und künftige Akteure wir sind –, so dienen die Strategien des einfachen Speicherns dazu, demjenigen Form zu geben, was nicht gesehen werden kann, dem Luftigen und dem Flüchtigen, um auf diese Weise die Spuren des – strenggenommen – Unsichtbaren zu erfassen. Denn in der Realität, die wir so deutlich zu sehen glauben, bewegen wir uns wie Blinde voran. In der sonderbaren Mechanik des Fotoapparats tritt das Sichtbare mit dem Unsichtbaren in Verbindung, innerhalb von wenigen Sekunden, in denen sich das Bild ausformt.

Das phänomenologische Rätsel bleibt gänzlich bestehen: Es gibt eine untrennbare Verbindung zwischen der Unsichtbarkeit und der Kristallisation des fotografischen Bildes; von jenem Moment, in dem ein Element (die Welt) von einem Zustand in einen anderen übergeht (Bildwerden). Es ist unmöglich, die Zeit in ihrem Fortschreiten anzuhalten. Alain Fleischer schildert eindrücklich, wie er Zeuge einer außergewöhnlichen Naturerfahrung wurde, die uns in unserem Nachdenken sinnbildlich weiterbringen kann: „Auf offener See vor dem Hafen von Reykjavik sah ich eine Welle, die ich lange, endlos lange hätte betrachten können, fasziniert von dem, was ich entdeckte, faszinierter aber noch mehr von deren eigener Zeitdauer, die meinem Blick gewährt wurde, eine Dauer, die, noch bevor sie Grund meiner Faszination war, die eigentliche Bedingung eines Betrachtens bildete, das nie endet und das nicht innerhalb kürzester Zeit seines Gegenstands entzogen zu werden drohte: Die Welle, von der ich spreche, war gefroren.“2 Diese gefrorene, kristallklare Welle sagt viel über das Erfassen einer für gewöhnlich ununterbrochenen, fortlaufenden Bewegung. Ganz als ob es möglich geworden ist, den Atem eines Lebewesens oder die Unendlichkeit eines Blicks einzufangen; wortwörtlich seine Aura. Die Aura steht demnach zum Teil im Bund mit dem Leben, das plötzlich unter dem Eis eingeschlossen ist, geradeso wie jene zu Eis erstarrte Welle, in deren Inneren das Leben sich noch regt.

„Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“, schrieb Walter Benjamin.3 Einverstanden: Die Aura – diese vage Erscheinung, deren Existenz paradoxerweise ebenso bildhaft wie übernatürlich sein soll – ist wohl das, was sich allem Zugriff entzieht, aber auch das, was auf der Netzhaut derer haften bleibt, die gleichwohl zu Zeugen ihrer seltsamen Erscheinungskraft werden. Die Aura kann man sehen, sie fällt ins Auge; sie kann sogar Schwindel verursachen oder einen Anfall auslösen. Manchmal muss man an sie glauben, wie man an Irrlichter glaubt. Sie kann auch alte Welten heraufbeschwören: Die Erinnerungen kommen plötzlich zurück und werden auf magische Weise aktuell. Dort, schnell, schau hin, gleich sind sie wieder verschwunden! Keine Sorge, wenn wir uns ihrer Fragilität gewahr sind, wird eine zarte Spur von ihr zurückbleiben auf dem Film, der Platte, dem Speichermedium ... oder in einem Winkel unseres Gehirns.

Der Aura Auge in Auge gegenüberzutreten, heißt dem Vergessen nachspüren, Verbindungen im Raum ziehen, die Zeit öffnen, und die Schatten mit Schmetterlingsnetzen einfangen.

1 Verschiedene Definitionen des Begiffs „Aura“, aus: Trésor de la Langue Française informatisé, Littré, Larousse.
2 Alain Fleischer, L’Empreinte et le tremblement, Ecrits sur le cinéma et la photographie 2, Galaade Editions 2009, S. 142.
3 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: Gesammelte Werke Band II, S. 378. (A.d.Ü.)

Léa Bismuth ist freie Kunstkritikerin und Kuratorin. Sie beschäftigt sich mit den Schnittpunkten der Räume, die Ausstellungen und Schreiben bieten. Sie leitet das von Georges Batailles inspirierte kuratorische Forschungsprogramm La Traversée des inquiétudes in Labanque de Béthune (Dépenses im Jahr 2016, Intériorités 2017 und Vertiges 2018).