Das Negativ am Werk

Michel Frizot

Am Anfang war das Negativ

Beim Formulieren dieser Aussage, die für Fotografinnen und Fotografen noch vor dreißig Jahren eine Selbstverständlichkeit war, fällt auf, dass diese heute vielleicht gar nicht mehr als ein Verweis auf die Grundlage der Fotografie verstanden wird, weil der Begriff des Negativs mittlerweile aus dem gängigen Vokabular der Fotografie verschwunden ist. Die digitale Fotografie erzeugt nicht mehr die charakteristischen materiellen Objekte jenes analogen Verfahrens, das hundertsechzig Jahre lang (von 1840 bis 2000) unabdingbar war, und trotz schwerfällig anmutender Technik die Vorstellungswelt der Menschen geprägt hat.

Wenn Arno Gisinger nun in der Kunsthalle Mannheim eine Sammlung von Glasnegativen ausgräbt, die der Ertrag von systematischen Erfassungen musealer Objekte und Ausstellungen sind, so geht er über ihren Status als „Dokument“ und Informationsträger hinaus. Ihm schwebt vor, ihre ursprünglichen Funktionen wieder zu aktivieren, ja zu übertreffen und falls nötig zu überschreiten, indem er sie in ihrer materiellen Gegenständlichkeit als Denkobjekte betrachtet. Sie bilden ein Werk, in dem ihre bislang verborgenen – und stets latenten – Eigenschaften für heutige Augen offenbar werden.

Sperrigkeit des Negativs

In nahezu allen Verfahren der vordigitalen Fotografie, – das heißt eine unvorstellbar riesige Menge –, war das Negativ jenes irritierende Bild, das jeder Fotoapparat hervorbrachte: Ein unklassifizierbares Objekt von leicht abstoßendem Anblick, das man jedoch auf Anhieb als das Originalfoto betrachtet, als Primärprodukt der Aufnahme, das alle gleichsam ohne Wissen des fotografierten Sujets aufgezeichneten Daten enthält und das somit die archäologische Entsprechung zur digitalen Datei darstellt.

Für die Erfinder der Fotografie war das Negativ eine zwingende Voraussetzung, um ein annehmbares Bild zu erzielen, zugleich aber auch eine Enttäuschung. Bei den Experimenten mit Silbersubstanzen, die sich unter Einwirkung des Lichts schwärzen, ging jeglicher Bezug zu den Farben des fotografierten Motivs (Landschaft, Porträt oder Gemälde) verloren und nur ein einziger, brauner oder grauer Ton blieb übrig. Ein Bild besteht demnach lediglich aus unterschiedlichen Helligkeitswerten, aus Variationen der Lichtstärke des Durchschnittswertes, allerdings sind diese Totalitäten gegenüber denen des fotografierten Motivs umgekehrt: Den hellen Stellen des Motivs entsprechen dunkle Stellen im Bild und vice versa. Das Negativ zeichnet sich mithin (zumindest viele Jahrzehnte lang) durch die Umkehrung der Helligkeitswerte und den Wegfall der Farbe aus. William H. Fox Talbot stellte bereits 1835 fest, dass bei erneuter Anwendung des fotografischen Prinzips auf das Negativ „die erste Zeichnung zum Gegenstand für die Herstellung einer zweiten Zeichnung dienen kann, in der Lichter und Schatten dann [wiederum] umgekehrt sind.“1 Der Abzug – also das endgültige Bild – ist somit das Ergebnis einer erneuten Umkehrung der Lichtwerte mittels Einwirken von Licht auf eine weitere fotosensitive Fläche durch die Werte des Negativs hindurch.

Doch dieses sperrige Objekt, das, obwohl es nicht als Foto aufgefasst wird, voll und ganz fotografisch und für den fotografischen Prozess unabdingbar ist, entspricht als Wahrnehmungsgegenstand nicht den natürlichen menschlichen Sehgewohnheiten.2 Das Auge tut sich schwer damit, in einem Negativ ein Relief, einen Raum, ein Gesicht zu erkennen, denn das System der Schatten, das uns hilft, Raum und Volumen wiederzuerkennen und das Bildliche strukturiert, wird durch die Umkehrung der Werte aufgehoben. Jedwedes Negativ entzieht sich beim Sehvorgang einer direkten und vollständigen Entzifferung. Das Negativbild bleibt etwas Fremdes, das sich nur stückweise deuten lässt: Man kann erkennen, dass es sich um eine Person handelt, ohne ihre Gesichtszüge wirklich bestimmen zu können, man kann die Anordnung der Formen eines abgebildeten Gemäldes (Die Erschießung Kaiser Maximilians von Manet) „erkennen“, ohne an das heranzukommen, was das Wesen und das Interessante des Gemäldes ausmacht: Es handelt sich nur um das Phantom eines Kunstwerks, aus dem alles Lebendige entwichen ist.

Arno Gisinger, Gespenstergeschichten, historische Ausstellungsräumlichkeiten der Kunsthalle Mannheim während des Umbaus, Edouard Manet, Die Erschiessung des Kaisers Maximilian, Farbfotografie 2017 © Arno Gisinger

Transparenz und Projektion

Mit der Erfindung des Papiernegativs durch Talbot erwies sich, dass die Rückumkehrung der Werte auf effiziente Weise nur mit Durchlicht erfolgen konnte, das Trägermaterial und fotosensitive Schicht durchquerte. Daher bestrich er das Papiernegativ, das typisch für sein Kalotypie-Verfahren war, mit Wachs, um es lichtdurchlässiger zu machen. Doch war es das kollodiumbeschichtete Glasnegativ seines Konkurrenten Scott Archer, das aufgrund des Vorteils vollständiger Transparenz seit 1851 der fotografischen Praxis einen entscheidenden wirtschaftlichen Aufschwung verschaffte. Glasnegative blieben noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg in Gebrauch, auch wenn es seit etwa 1890 allmählich durch das leichter handhabbare Zelluloid verdrängt wurde.

Die Transparenz des Negativs ist die Bedingung sine qua non für die „Projektion“3. Die Herstellung eines Abzugs vom Negativ mittels Kontakt der beiden Flächen beinhaltet im Wesentlichen den Vorgang einer Lichtprojektion, wobei die eine Fläche vom Licht durchquert wird und die andere es unter Umkehrung der Werte aufnimmt.

Die Projektion entstand in der Absicht, von den Negativen größere Abzüge herzustellen. Die in den 1880er Jahren entworfenen „Vergrößerer“4 führten gleichzeitig zur Konstruktion von „Projektionslaternen“, die (durch Umkehrung des Negativs erzielte) Glasdiapositive vergrößerten.5 Bei der Projektion von Diapositiven auf eine weiße Leinwand, die auch aufgrund der Entstehung von Fotoclubs in den 1890er Jahren von Amateuren sehr geschätzt wurde6, sprach man von „fotografischen Tableaus“7. Aus dem rückwärtigen Teil der ausgerichteten Apparatur pflanzt sich das Licht durch das Diapositiv und das Objektiv – beide transparent – nach vorne fort, bis es durch eine Fläche aufgehalten wird. Die Fläche bringt das Bild hervor, indem sie die Lichtstrahlen auffängt. Für die Betrachterinnen und Betrachter ist es also das von dieser Fläche reflektierte Licht, das als Bild lesbar wird, vorausgesetzt, dass es sich bei dem Dia um ein positives „Tableau“ handelt. Ein Negativ zu projizieren, hätte keinen Sinn.

Überstände

Das Negativ ist ein rein technisches Bild: das erste, das ohne Eingriff von Menschenhand durch eine Maschine gemacht wurde. Die Anordnung der Formen benötigt dabei keinen künstlerischen Eingriff. Allerdings birgt das Negativ aufgrund der Eigenschaften der Optik ein Charakteristikum strenger Genauigkeit und wissenschaftlicher Präzision: Nichts entgeht ihm, und alles, was an Lichtdifferenzierungen vom fotografierten Raum ausgeht, wird in seine Oberfläche eingeschrieben. Das Negativ enthält somit auch unbeabsichtigte oder belanglose Informationen, unsichtbare Spuren, die sich erst später durch ein feineres oder spezifischer ausgerichtetes Hinsehen feststellen lassen.
Trotzdem wählen die Fotografinnen und Fotografen in der Praxis vorsichtshalber einen bestimmten Überstand. In aller Regel ziehen sie beim Anvisieren des Motivs und bei der Bestimmung des Bildausschnitts ein größeres Bildfeld in Betracht als dasjenige, das sie festhalten wollen, sodass sie sich Spielraum für eine spätere Änderung des Bildausschnitts bewahren. Das Negativ enthält daher mehr, als es sollte. Die szenische Einrichtung für die Aufnahme, die momentane Umgebung des Objekts, die Bedingungen der natürlichen oder künstlichen Beleuchtung sind also auf dem Negativ nur vorbehaltlich vorhanden, sind sie doch dazu bestimmt, auf dem Abzug zu verschwinden. Bei heutiger Betrachtung dürften die Ränder des Negativs zeitbedingte Schäden beziehungsweise verschiedenerlei Spuren menschlicher Verwaltungstätigkeit aufweisen: Papierbordüren, Etiketten, Beschriftungen mit Tinte. Das professionell gefertigte Glasnegativ erscheint somit in doppelter Gestalt und in zwei Zeitstufen: Da ist zunächst eine Art unantastbare Grundlage, die alle erwünschten und unerwünschten Informationen enthält und die man aufbewahrt, um diese Informationen später zu erschließen. Dazu kommt ein Bestand an Metainformationen, der deren Verarbeitung erleichtert oder die Überstände durch Retuschen und Maskierungen beschneidet. Das Negativ zwingt dem fotografierten Gemälde oder der Skulptur seinen eigenen Anachronismus auf, weil es zwei Zeitlichkeiten einschließt: die der Erschaffung des jeweiligen Kunstwerks und die der Aufnahme, die dieses Werk in eine neue Zeit setzt und zeitlich gesehen gegenläufig ablichtet.

Die Kunst in der Falle des Negativs
Wir halten es heute für völlig selbstverständlich, im Internet Zugang zu einer Vielzahl an Kunstwerken – oder vielmehr ihren fotografischen Reproduktionen – zu bekommen beziehungsweise das eine oder andere Souvenir an eine besuchte Ausstellung in unserem Mobiltelefon zu speichern. In unserer geradezu ekstatischen Bildschirmeuphorie tritt die Fotografie unversehens an die Stelle des Werks, während gleichzeitig die Gegenwartskunst oftmals zu einer fotografischen geworden ist. Dabei haben wir völlig vergessen, dass gerade die Fotografie die Entwicklung der Kunstgeschichte ermöglicht und damit dem Vergehen der Zeit visuelle Konsistenz verliehen hat: Seit den 1850er Jahren werden unter Nutzung der Genauigkeit und Schnelligkeit des Verfahrens Gemälde in Museen und Kirchen fotografiert. Und diese Bewegung verstärkte sich noch in den 1870er Jahren, als umfangreiche Sammlungen von Aufnahmen entstanden, die von Firmen wie Alinari oder Braun in großer Menge vertrieben wurden. Die Komparatistik, auf der die Kunstgeschichte aufbaut, wurde aus der unerhörten Möglichkeit geboren, auf einem Tisch oder einer Tafel mehrere Reproduktionen von über die ganze Welt verstreuten Originalwerken nebeneinander zu legen, sie auf einen Blick zu verbinden und sich dabei der formalen Originaltreue der Kopie sicher sein zu können (man denkt an den berühmten Mnemosyne-Atlas von Aby Warburg). Die Künstler, Maler oder Architekten bezogen damals ihre Bildung weit stärker aus dieser geballten fotografischen Dokumentation als aus sakrosankten Italienreisen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Projektionsdiapositiv im standardisierten Format zum bevorzugten Unterrichtsmaterial, das sich für das Publikum auf einer Leinwand visualisieren ließ, und in den 1960er Jahren kam das Farbdiapositiv auf. Die Kunst in allen ihren Formen war der Fotografie so sehr in die Falle gegangen, dass André Malraux 1947 schrieb: „Seit hundert Jahren ist die Geschichte der Kunst [...] die Geschichte dessen, was fotografierbar ist“.8
Bei diesem Ersetzungsvorgang des Originals durch die Reproduktion, der sowohl mit Gründen der Konservierung (wie in Mannheim) als auch der Verbreitung legitimiert wurde, hatte die Kunst etliche ihrer wesentlichen Eigenschaften eingebüßt: ihre Farben (keine Kleinigkeit), ihr Format (durchgängig in die Größe des Papiers von 20 x 25 cm oder ein Diapositiv von 8,5 x 10 cm eingepasst), ihren räumlichen und architektonischen Kontext. Der spätere Durchbruch der Farbe stiftete nur Verwirrung durch eine eher vage Originaltreue, die bei Buchillustrationen noch mangelhafter ausfiel. Was man als Dokumentation vor Augen hat reduziert sich auf diese Weise auf vom Original abgenommene Zeichen, während sich dieses Original, wenn man es am Ort betrachten kann, als von unserer Augenkapazität in seiner Gesamtheit als nicht erfassbar erweist. Das Negativ war oftmals verantwortlich für nachfolgende Abweichungen und Sinnverkehrungen: Die Schwierigkeiten, das Negativ, das Positivduplikat und das Diapositiv im Projektor auszurichten, führten oft zu dem typisch fotografischen Phänomen der (Links-Rechts-)Spiegelverkehrung des abgebildeten Motivs.9 Ein irreversibler Verstoß gegen den Werkbegriff überhaupt.

Werk der Wahrnehmungen
Alles, was aus der Fotografie und zumal vom Negativ kommt, unterliegt einem grundlegenden Widerstreit zwischen den Aufzeichnungskapazitäten einer technischen Apparatur und den Bedingungen der menschlichen Wahrnehmung. Diese Bilder haben kein Eigenleben, sondern eignen sich nur dazu, durch adäquate Lichteinrichtungen wiederbelebt zu werden und daraufhin im fragenden Blick der Betrachterinnen und Betrachter wiederaufzuleben. Denn der Akt des Betrachtens erfolgt visuell und mental; die Betrachtenden versuchen das, was sie sehen, auf ihre Kenntnisse und Anschauungen (zurück) zu beziehen, selbst wenn sie sich dabei irreführen lassen. Arno Gisingers Arbeit mit den Negativbeständen der Kunsthalle Mannheim fordert uns aus unseren Rückzugsgebieten als fortwährender fotografischer Voyeure heraus. Indem Gisinger den früheren Zweck des Negativs, der hier der Reproduktion der Kunstwerke galt, reaktiviert, vervielfacht er die visuellen und mentalen Aporien, die ihrerseits allesamt auf imaginäre Abweichungen verweisen. Das auf eine Wand projizierte Objekt wird, im Widerspruch zu seiner primären Funktion, zu einer Schimäre, die hier oder da in mimetische Reminiszenzen verfällt.
Die visuelle Beschaffenheit der Mannheimer Projektionsmauer, die aus Backsteinen und Fugen, das heißt rechteckigen Wechselfolgen von Hell und Dunkel besteht, untergräbt die grundsätzliche Einheitlichkeit des negativen Bildes, indem sie dieses mit positiven Bruchstücken unterlegt – wie in einem ausgefallenen Puzzlespiel, das uns wechselweise dazu einlädt, das Vorgetäuschte zu glauben und das Reale zu verneinen.
Mit seiner Installation bringt Arno Gisinger die entkräfteten und entstellten Phantome der Originalwerke des Museums noch einmal zur Erscheinung, indem er die Urväter der von ihm benutzten Technologie aufruft. Damit entspricht er dem Streben jedes Werkes, „zur Ausstellung zu kommen“, ja mehr noch, seinen Status zu erneuern. Bei diesem Vorgang findet sich der Werkbegriff insgesamt (die fotografisch aufgezeichneten Kunstwerke, das Werk von Arno Gisinger) im Gitternetz der Darstellungen und Repräsentationen oder vielmehr der dazu gehörenden Funktionen. Die manuellen Handlungen des Malens, Bildhauens, Retuschierens und Archivierens werden mit den artefaktischen Funktionen der Fotografie (Negativ, Aufzeichnung, Umkehrung, Projektion) vermischt, die uns in unserem Bedürfnis nach visuellem Verständnis gründlich verunsichern: Was ich vor mir sehe, verweist nicht auf das, was meiner Vorstellung zufolge fotografiert worden ist.

1 Larry J. Schaaf: Out of the Shadows. Herschel, Talbot, and the Invention of Photography, Yale 1992, S. 41f („In the Photogenic or Sciagraphic process if the paper is transparent the first drawing may serve as an object to produce a second drawing, in which the lights and shadows would be reversed.“).
2 Michel Frizot: „Negative Ikonizität. Das Paradigma der Umkehrung“, in: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit, Frankfurt a. M. 2002, S. 413–433, und „L’image inverse. Le mode négatif et les principes d’inversion en photographie“ in études photographiques, Nr. 5, November 1998, S. 51–71.
3 Bis zum Aufkommen der Projektion fotografischer Ansichten bezog sich der Begriff ausschließlich auf die Geometrie. (Vgl. Michel Frizot: „Un dessein projectif: la photographie“, in: Dominique Païni (Hg.): projections. Les transports des images, Paris 1997, S. 73–93.
4Albert Londe: La Photographie moderne, Bd. 2, Paris 1896, S. 513–543.
5 Dia bedeutet auf Griechisch „(hin)durch“.
6 H. Fourtier: La pratique des projections, Paris 1893.
7 Ebd., S. 12ff.
8 André Malraux: Psychologie de l’art: le musée imaginaire, Genf 1947, S. 32.
9 Heinrich Wölfflin: „Über das Rechts und Links im Bilde“, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, Ser. NF, Bd. 5 (1928), S. 213–224.

Michel Frizot (*1945) ist ein französischer Historiker und Fototheoretiker.
Er war Directeur de recherche am Centre national de la recherche scientifique und Autor / Herausgeber des Standardwerks Neue Geschichte der Fotografie (1994). In seinen Forschungsarbeiten beschäftigt er sich mit den Grundlagen fotografischer Prozesse, von ihrer technischen Herstellung bis zur Rezeption der Bilder.