Das vollkommene unvollkommene Bild

Jörg Colberg

Am 31. Mai 2017 – nach einer Reihe heftiger Gewitter ging gerade die Sonne unter – habe ich aus dem Fenster eines Diners heraus ein Foto mit meinem Smartphone gemacht. Es war eines dieser Bilder, denen man sich nicht entziehen kann: das goldene Leuchten des ausklingenden Tages, multipliziert mit unheilvoll dräuenden, tiefhängenden Wolken am Himmel; das vom nassen Asphalt reflektierte Licht und die Neonreklame des Diners, die sich nahtlos in ein Meer aus Gelb-, Orange- und Magentatönen einfügt. Vollkommener Americana-Kitsch, egal wie real er tatsächlich gewesen ist (Abb. 1). Ich postete das Bild auf Instagram in Erwartung einer Flut von „likes“, die dann auch tatsächlich eintrudelten. Einen der Filter dieser App zu benutzen, war gar nicht nötig – den hatte die Realität bereits zur Verfügung gestellt.

Abb. 1: Jörg Colberg: Bluebonnet Diner, 2017 © Jörg Colberg

Auf jedem meiner verschiedenen Geräte – einem Desktopcomputer, einem Laptop und meinem Smartphone – sieht das Bild anders aus. Das mag kontraintuitiv klingen, doch jedes dieser Geräte verfügt über eine unterschiedliche Art von Display, das Farben und Details jeweils anders darstellt (noch dazu hat mein Handy ein Hotpixel-Handicap). Bei mir Zuhause existieren also vier Versionen dieses einen Bildes, das ich gemacht habe, und noch zahllose andere draußen in der Welt – wo immer man bei Instagram auf eins trifft.

Hat eine Fotografie erst einmal lange genug im Internet existiert, bringt sie sogar noch mehr Variationen hervor, nicht nur aufgrund von Unterschieden bei der Display-Hardware, sondern auch softwarebedingt. Dieser Effekt lässt sich mithilfe einer simplen Google-Bildsuche demonstrieren. Am 28. Mai 2016 habe ich zum Beispiel den Begriff „Eggleston Red Ceiling“ in die Suchmaske eingegeben und erhielt daraufhin ein Image-grid der bekannten Fotografie oder vielmehr von verschiedenen Versionen dieses Bildes. In Photoshop wählte ich jedes Bild aus und ließ die Software seinen Farbdurchschnitt ermitteln (Abb. 2). Die Ergebnisse wiesen deutliche Unterschiede auf. Man könnte so naiv sein, anzunehmen, dass die Thumbnails ein und derselben Fotografie allesamt denselben durchschnittlichen Farbwert hätten, doch das ist nicht Fall. Der Ursprung dieser Variationen ist nicht unmittelbar klar. Ich nehme an, es ist eine grundlegende Frage der Farbräume und hängt davon ab, wie viele (und welche) Farben bei der Entstehung einer jeden neuen Kopie des Originalfotos wiedergegeben und/oder gespeichert wurden (wobei das wiederum voraussetzt, dass es nur eine Originalkopie gab, was möglicherweise gar nicht der Fall war).

Abb. 2: Jörg Colberg: 25 Red Ceilings, 2016 © Jörg Colberg

Ein anderes, bekannteres Problem, das Online-Fotos betrifft, entsteht durch Kompressionsalgorithmen, gewöhnlich aufgrund der Verwendung des JPEG-Formats. Solche Algorithmen reduzieren die Datenmenge, wobei sie richtig genutzt eigentlich nur Informationen entsorgen, die nicht sichtbar sind. Natürlich führt das in den meisten Fällen dennoch zu einem Qualitätsverlust. Viele der Diskussionen über das Medium Fotografie drehen sich um seine Wahrhaftigkeit, ganz besonders heute, in dieser Ära der „Fake News“. Offenbar gilt allerdings für viele Fotografien und Videos das Gegenteil von dem, was man vielleicht annehmen würde. Angesichts der weiten Verbreitung von Bildern und insbesondere von Videos sogenannter „Bürgerreporter“ werden augenfällig unscharfe oder visuell verzerrte Bilder oder Videos schon längst nicht mehr als weniger glaubwürdig erachtet. Vielmehr sind es gewöhnlich die Bilder der Profis, denen mit wachsender Skepsis begegnet wird, insbesondere wenn sie vermeintlich „zu gut“ aussehen. Ein gutes Beispiel dafür ist das 2013 als World Press Photo ausgezeichnete Bild von Paul Hansen, das viele Menschen für manipuliert – letztendlich also für zu gut – hielten1 .

In den Zeiten der analogen Fotografie waren materialbedingte Variationen häufig indirekt Teil des Apparats, mit dem die Bilder gemacht worden waren. Wer beispielsweise eine Polaroid-Kamera besaß, der wusste, dass das Ergebnis variieren konnte und auch würde. Wie oben dargelegt, gibt es auch in der Welt der digitalen Fotografie genügend Raum für Fehler, allerdings manifestieren sich diese hier auf andere Weise – nicht auf die von uns gewünschte. Insbesondere in der Welt der Smartphone-Fotografie bieten sich zahllose Möglichkeiten, einen artifiziellen Analogfotografie-Look zu erzielen. Hier zeigt sich, dass eben das, was zuvor als störend betrachtet wurde – unberechenbares Material – nun von den Menschen gewünscht ist, und sei es auch nur in simulierter Form. Die Firma Polaroid hat die Herstellung von Filmen eingestellt, verkauft aber inzwischen eine App namens Polamatic, mit der sich der Look von verschiedenen Filmen der Marke simulieren lässt. Dieses Resultat erzielte das Unternehmen durch das Scannen alter Fotos. So kann der Nutzer der App zum Beispiel zwischen zwölf verschiedenen SX70-Filmen oder 23 spezifischen (weißen) Rändern wählen. Dennoch entspricht das natürlich nur einem Bruchteil jener Variationsmöglichkeiten, die sich einem SX70-Nutzer in der Vergangenheit boten, als jede neue Packung Film (und jede Kamera) tatsächlich etwas anders ausfiel. Auch Instagram-Filter funktionieren nach einem ganz ähnlichen Prinzip. Inzwischen gibt es sogar Apps (wie Oblique), um die Art von Bildfehlern zu simulieren, die durch fehlerhafte digitale Algorithmen entstehen: Glitches (wörtlich übersetzt Panne, Störung).

Theoretische oder kritische Überlegungen zur Fotografie sollten die Popularität von Smartphone-Fotofiltern berücksichtigen, die ältere Materialien simulieren. Autoren wie Susan Sontag mit ihrer Ablehnung gegenüber der Art und Weise, wie sich die unkultivierten Massen der Fotografie bemächtigten (so hätte es Susan Sontag wohl nicht formuliert, aber zwischen den Zeilen war ihre Geringschätzung ziemlich offensichtlich), hatten lange Zeit zu viel Einfluss. Heute gibt es eine echte Nachfrage nach visuellen Effekten, die in der Welt der anlogen Fotografie als störend angesehen wurden. Entscheidend ist, dass solche Defekte – egal ob real in der analogen oder simuliert und/oder real in der digitalen Welt – gewöhnlich nicht (mehr) als die Glaubwürdigkeit von Bildern herabsetzend betrachtet werden. Vielmehr sind sie ganz offenbar zum Bestandteil von Fotografien geworden. Nachdem die Hersteller von Kameras so viel Zeit darauf verwendet haben, sie auszumerzen, wollen die Menschen sie nun zurück. Das muss etwas bedeuten.

Des Weiteren – und das geht weit über den Rahmen dieses Essays hinaus – ist es vielleicht an der Zeit, unsere Vorstellungen davon, was Fotografien eigentlich sind, zu überdenken. Angesichts der vielen kleinen, aber erkennbaren Variationen in den Fotografien, die wir produzieren, müssen wir uns möglicherweise von der Idee verabschieden, dass sie als mechanisch oder digital in Serie herstellbare Gebilde einander gleichen wie perfekte Klone. Sie existieren irgendwo als „Daten“, um dann – wie kurz dieser Zeitraum auch sein mag – auf einem Bildschirm gezeigt zu werden, in Form eines unvollkommenen Klons. Im Licht der bisherigen Ausführungen liegt es für mich auf der Hand, dass wir es vorziehen, dass unsere Fotografien „unvollkommen“ sind.

Aber wenn eines der Bilder, die ich betrachte, wirklich nur ein unvollkommener Klon ist – möglicherweise in einer Reihe vergangener und zukünftiger Klone –, was genau ist dann das Bild selbst, das Originalbild, oder wie immer man es sonst nennen will? Um auf mein Foto von dem Diner zurückzukommen, so scheint mir momentan der Gedanke am schlüssigsten, dass das Originalbild ausschließlich in Code-Form existiert, eben jenem Code, den meine verschiedenen Geräte in leicht variierende Klone übersetzen. In der analogen Welt wäre der Code für diese Bilder, die klonbar waren, das Negativ gewesen.

Diese latenten Proto-Bilder – wie gehabt in Fotografien übersetzt und maschinen-, software- oder nutzerbedingten Unvollkommenheiten unterliegend – treffen dann auf unsere Erwartungen daran, was eine Fotografie machen und wie sie aussehen sollte. Hier, auf der Ebene unserer Erwartungen, könnte es geschehen, dass wir die Rolle oder die Bedeutung von Unvollkommenheiten oder Defekten, die Frage, warum und wie Bilder so aussehen, wie sie aussehen, noch einmal überdenken.

Übersetzung: Stephan Glietsch

1 Vgl. TPPA: World Press Photo Verifies Paul Hansens Winnig Picture. https://nppa.org/news/world-press-photo-verifies-paul-hansens-winning-picture(Zugriff am 01.06.2017).